Wo echtes Verstehen beginnt

Wissen lässt sich kognitiv erfassen und es lässt sich fühlen. Steile These, werden viele denken. Und die Lösungen für die Mathe-Abi-Klausur lassen sich natürlich nicht erfühlen. Schön wärs gewesen. Aber wenn es um das tiefere Verstehen des Selbst und des eigenen inneren Erlebens geht, ist es neben dem verstandesmäßigen Erfassen wichtig, die Erkenntnis zu fühlen. Spüren, was es bedeutet. Ein Beispiel auf meinem Yogaweg sind die Chakren. Immer wieder waren die Chakren Thema in den Yogastunden, die ich als Schülerin erlebt habe. Dazu gibt es Meditationen oder bestimmte Asanas, mit dem Ziel, die Chakren zu aktivieren oder zu harmonisieren, um zu einem inneren Gleichgewicht zu kommen. Dieses Ziel steht für mich persönlich ganz oben. Andere haben stärker ihre spirituelle Entwicklung oder ihre Gesundheit im Blick.

Für alle, die gerade nicht genau wissen, worum es geht, hier ein kleiner Exkurs: Yoga geht davon aus, dass jeder Mensch zusätzlich zu seinem sichtbaren – grobstofflichen – Körper über eine feinstoffliche Energie verfügt, nämlich die Lebensenergie oder Prana. Ebenso wie das Wort Prana stammt das Wort Chakra aus dem Sanskrit und bedeutet so viel wie Rad oder Kreis. Es bezeichnet Energiewirbel, durch die die Lebensenergie fließt. Die Chakren sind entlang der Wirkbelsäule angeordnet und meist werden sieben Hauptchakren beschrieben – vom Beckenboden bis zum Scheitel. 

Chakren sind anatomisch nicht nachweisbar. In der Psychologie werden sie oft als symbolisches Modell gesehen. „Das Chakrasystem kann als ein umfassendes, vorwissenschaftliches Entwicklungsmodell verstanden werden, das das ganze Spektrum der dem Menschen potenziell zugänglichen Entwicklungsmöglichkeiten, bis hin zu transpersonalen Stufen der Selbstentwicklung, abbildet“, so beispielsweise die beiden Psychotherapeutinnen Dr. Liane Hofmann und Patrizia Heise[1]. Auch C. G. Jung, der als einer der Begründer der modernen Tiefpsychologie gilt, widmete sich den Chakren. Im Jahr 1932 gab er ein Seminar zum Kundalini-Yoga. Jungs Anliegen war es, den Kundalini-Yoga und sein Chakren-System als Modell für Bewusstseinsentwicklung zu interpretieren[2]

Im Yoga und in der Meditation gelten die Chakren als erfahrbar, etwa durch das Strömen von Energie, durch Gefühle oder durch veränderte Bewusstseinszustände. Gut. Oder nicht gut, denn um ehrlich zu sein, ich spürte: Nichts. Für mich blieben die Chakren lange Jahre ein Konzept. Ich drehte es in den Händen wie ein ferngesteuertes Auto, dessen Beschreibung verspricht, dass es mit 100 Stundenkilometern abgeht, bei mir aber ohne jeden Mucks blieb. 

Dann begann ich mit dem Atmen oder besser gesagt der Atemarbeit und ohne dass ich es beabsichtigte, passierte es: Das Konzept wurde durch die Erfahrung lebendig. Durch die Kombination aus kognitivem Erfassen und Erfühlen, Erspüren, Erfahren entsteht Verständnis oder vielleicht auch Erkenntnis – vor den großen Worten schrecke ich ja immer ein wenig zurück. Es nützt aus meiner Sicht wenig, den kognitiven Part immer weiter zu füttern, was angesichts der Flut von Büchern, die zum Thema erscheinen, offensichtlich viele Menschen tun. Der Suchbegriff „Chakra“ bei einem großen Online-Buchhändler führt zu mehr als 1.000 Ergebnissen. Und die vollmundigen Versprechen der Titel lassen mich zusammenzucken. Bei einer Sache lege ich mich aber ohne Zucken fest: Konzepte bleiben hohl, wenn sie nicht erfahren werden. 

Bleibt noch die Frage, wie denn meine persönlichen Erfahrungen mit den Chakren aussehen. Etwas in Sprache zu verwandeln, dass sich sprachlich kaum fassen lässt, ist schwierig. Die Schwierigkeit liegt aus meiner Sicht vor allem in der Frage, ob sich das Erleben mit konkreten Worten angemessen erfassen lässt. Zeichne ich also mit meiner Beschreibung Bilder, die bei anderen Menschen Erwartungen wecken, dass es genau so sein muss? Was ja nicht so ist. Entstehen starke Meinungen, die meine Beschreibung in bestimmte Kategorien packen und damit das Thema abhaken? Wäre schade. Deshalb möchte ich am Ende nur so viel sagen: Mein inneres Gleichgewicht ist stabiler. Und das ist schön.


[1] Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis herausgegeben von Dr. Liane Hofmann und Patrizia Heise (2016)

[2] Die Psychologie des Kundalini-Yoga C.G. Jung, nach Aufzeichnungen des Seminars von 1932, herausgegeben von Sonu Shamdasani (2019), 

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